Realitätsmisachtung

Ich bringe bestimmte Wahrnehmungen mit in die Diskussion, die auf Grund von ihren Entstehungsumständen und fortwährenden persönlichen Folgen meinerseits als unhilfreich einzustufen sind. Dennoch, finde ich, ist so Manches, das im Folgenden erörtert werden sollte, vielleicht von Interesse. 

Gibt es ein Lehrgebäude der Misaletheia? Wenn nicht, dann sollte ich ein paar Grundideen zusammenfassen, die dieses auszeichnen könnten.

Der wesentliche Gedanke ist dieser: Es ist unmöglich, ohne Gegensprüche existieren zu können. Des Öfteren begegne ich dieser Setzung, und ich denke, so manche derzeitigen Probleme und offenen Fragen lassen sich in dieser Hinsicht ausdrücken. Man könnte diese als Gegenteil der Stoa sehen, welche als höchste Anstrebung die Existenz gemäß der eigenen Natur sieht, welche unter den unausweichlichen Gegensprüchen der Misaletheia ohne weiteres für nichtig erklärt werden würde. Auf Grund von neuartiger Technik ist die Stoa erneut in den öffentlichen Diskurs gedrungen, und sie muss zwingenderweise (dem misaletheistischen Gedanken zufolge) eine entgegengesetzte Position mit sich führen, die in der Sprache unserer postmodernen Erkenntnissen verfasst ist, und sich ihren wissenschaftlichen Mustern und Mitteln bedient. Wir verwenden einen einfachen Fall des reductio ad absurdum, und versuchen, durch die annahme, es sei möglich, ohne Gegensprüche zu existieren, einen Gegenspruch herbeizuführen.

Bsp. 1 - Nehmen wir zum Beispiel den unscheinbaren Satz:

(1) "Das Gegenteil einer großen Idee ist ebenfalls eine große Idee"

Dies sagte laut Carl Sagan einst Niels Bohr, aber ist zahlreichen anderen Indiviuen ebenfalls zugetraut. Es geht bei der originellen Zitierung um die Eigenschaft der Physik, die besagt, dass die unwahrhaftigkeit einer fortgeschrittenen Theorie die notwendigkeit einer ebenso fortgeschrittenen Theorie belegt. Sagan zeigt uns auf eine sehr einfache Art, weshalb dies logischerweise keinen Sinn ergibt und sich selbst in Frage stellt. Das gegenteil von (1), also ¬(1), ist laut (1) eine große Idee (ansonsten entpuppt sich (1) selbst als nicht-so-große Idee), aber laut ¬(1) ist (1) nicht eine große Idee, d.h. ¬¬(1) und ¬(1) bestätigen ¬(1), während (1) sich widersprüchig ist. Es gibt also tatsächlich Sätze, die sich selbst in Unsätze verwandeln. Ganzheitlich ist diese Tatsache eindeutig nicht; in sich Selbst ein Widerspruch gegen den stoischen Gedanken. Gewiss, (1) muss falsch sein.

Bsp. 2 - Kurt Gödel lieferte einen sehr schweren Treffer bezüglich einer Solchen position: die Gegensprüche finden sich unausweichlich in einer Sprache höherer Ordnung, das heißt, eine, in der Aussagen sich selbst in Bezug nehmen können, oder in der sie die Sprache in Bezug nehmen, oder weiter entferntes (man denkt an die vorphilosophische Immanenzebene von Deleuze und Guattari als Beispiel einer Aussage höherer ordnung, zwingenderweise findet diese innerhalb einer Sprache höherer Ordnung statt). Eine Sprache, die sich hohen Ordnungszahlen bedient, muss einen Gödelsatz enthalten, dessen Beweis (ebenfalls in der selben Sprache ausgedrückt) er selbst ist. Gödel gab jedem Satz eine Zahl, denn formell ausgedrückt sind Sätze bloß Zeichenfolgerungen, die an eine Zahl geknüpft werden kann (z.B. indem sie augeschrieben und gespeichert wird). Ein Satz also, der etwas über seine eigene Zahl aussagt, könnte sein eigener beweis sein, oder sein eigener Gegenspruch sein. Ähnliche Theorema beweisen, dass solche Sprachen (sogar die gesamte Mathematik) weder Vollständigkeit, noch Ganzheitlichkeit, noch Entscheidbarkeit besitzen könnten.

Somit ist die Stoa einer starken Kritik ausgesetzt. Diese Ganzheitlichkeit, die ihr als Zentral gilt, ist eben nicht möglich, denn unsere Erfahrungen, unsere Sinneswahrnehmungen, unser Bewusstsein, müssen zwingenderweise diesen Sprachen höherer Ordnung entsprechen. Die sprachlichen Darstellungen, die in unseren Kommunikationen mit anderen Menschen entstehen, müssen sich dieser Logik anpassen. Diese vermeintliche Ganzheitlichkeit muss also auf einer nicht-sprachlichen Ebene gelten, die als solche weder bewiesen werden kann, noch in einer uns verständlichen Weise zum Vorschein gerufen werden kann. Somit ist die Stoa als lehrgebäude in einem ihrer Grundsätze fern von verständlich. Noch ferner ist die Vorstellung, dass ein Gedanke, der nicht einmal auf einer sprachlichen Ebene gelten kann, eine Lebensweise befürworten kann, die auf logischer Basis eine Verbesserung der Zustände erzeugt.

Ein paar weitere Beispiele:

Bsp. 3 -  Der Kapitalistische grundgedanke ist widersprüchig. Die erstrebenswerte Freiheit des absoluten freien Markts erfordert bestimmte Kontrollverluste (Diktatur durch den großen Anderen), die diese Freiheit irgendwann vernichten. Marx und Engels waren bereits sehr beschäftigt, diese Gegensprüche festzustellen; heutzutage ist das stärkste Konter die Realität der Erderwärmung.

Bsp. 4 - Selbstmord ist ein Widerspruch gegen das Leben, dennoch findet er statt.

Bsp. 5 - Die Liebe, höchst selbst, wird ebenfalls zu ihrem eigenen Verhängnis. Die meisten bezeichnen Liebe als ein ebenfalls hoch erstrebenswertes Gut, aber sie verursacht viel Leid.

Somit zeichne ich das Bild der Misaletheia. Wer sein Altgriechisch beherrscht (welches ich es nicht tue), wird wissen, wen, beziehungsweise was ich für diese Schweinerei verantwortlich machen werde. Die Realität selbst. Wenn wir prognostizieren, dass keine dieser Aussagen ihr Zentrum in unseren menschlichen Körpern findet (bis auf Bsp. 5, aber da lässt sich streiten, manche besitzen Haustiere), der muss so zugeben, dass die reine Vernunft sie herbeiführte. Somit ist die Realität selbst die ursache der Gegensprüche, jedenfalls diese, die sich uns offenbart. Die Misaletheia ist also die Schule der Realitätsmisachtung.

Kann es, gemäß einer bestimmten Lebensvorschrift, vorstellbar sein, dass die unvollkommenheit des natürlichen Lebens, welche wir Tag für Tag zu Gesicht bekommen, zu ignorieren sein kann?


P.S. how very scientific of me to conflate reason and reality... But I don't see how reason is not an aspect of reality, and perhaps there is only self-consistency in reality when everyone remains quiet.

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